Über die Multifamilienarbeit
Ziel und Wirkmechanismen der Multifamilienarbeit
Die Theorie und die Technik der Multifamilienarbeit basieren hauptsächlich auf den Prinzipien der Systemischen Beratung, die durch tiefenpsychologische Elemente ergänzt werden. In einer Gruppe besteht die Möglichkeit, problematische Verhaltensweisen einer Familie differenzierter zu bearbeiten, da die Mitglieder der anderen Familien neue und andere Perspektiven haben. Dies vor allem dann, wenn sie mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.
Menschen zeigen oft eingeengte Sichtweisen für eigene Probleme, haben aber ein grosses Gespür für ähnliche Probleme bei anderen. Dies kann in der Multifamilienarbeit genutzt werden, wenn eine Atmosphäre von gegenseitigem Vertrauen, Anteilnahme, Verständnis und Transparenz geschaffen wird. Ziel der Arbeit ist es, die einzelnen Familien die Vielfalt der Gruppe als Chance für sich selbst erleben zu lassen. Die Familien erkennen, dass auch andere vom gleichen Problem betroffen sind. Dies stärkt das Selbstwertgefühl und es macht die Familien offener für die Wahrnehmung und Lösung derselben Schwierigkeiten bei sich selbst.
Geschichte der Multifamilienarbeit
Bei der Multifamilienarbeit bzw. -therapie handelt es sich um eine Arbeitstechnik, die ihren Ursprung in den 1940er- und 1950er-Jahren in den Vereinigten Staaten hat. Verschiedene Teams von Therapeut*innen begannen mit chronisch psychotischen Patienten und ihrem sozialen Umfeld in Grossgruppen zu arbeiten. Als eigentlicher Vater der Multifamilientherapie wird Dr. H. Peter Laqueur bezeichnet. Er arbeitete mit schizophrenen Patienten und begann, deren Angehörige direkt in den Heilungsprozess miteinzubeziehen.
Es zeigte sich bald, dass der gemeinsame Erfahrungsaustausch, die gegenseitige Unterstützung, die konstruktive Kritik und das Kopieren der Lösungen anderer (Modell-Lernen) bei der Begegnung verschiedener Familien mit ähnlichen Störungen sehr hilfreich waren. Angehörige, welche ähnliche Schwierigkeiten mit ihren Familienmitgliedern hatten, erfuhren, dass es fast identische Probleme auch anderswo gab. Sie lernten, dass sie sich gegenseitig helfen konnten, neue Lösungen zu finden. Die Multifamilientherapie wurde auf Kinder und Jugendliche ausgeweitet und weiterentwickelt.
In den 1970er-Jahren fasste die Multifamilienarbeit in Grossbritannien Fuss, wo sie vom Marlborough Family Service angewendet und weiterentwickelt wurde. Von dort aus hat sie sich in ganz Europa verbreitet.
Federführend bei der Entwicklung der Multifamilientherapie sind Prof. Dr. med. Eia Asen (Anna Freud Institut, London) und Prof. Dr. med. Michael Scholz (Dresden, †2021). In der Schweiz trifft man heute Multifamilienarbeit im kinderpsychiatrischen, sozialpädagogischen und schulischen Kontext an.
Familienklassenzimmer bzw. Multifamilien-gruppen in der Schule
Die Familienklasse oder das Familienklassenzimmer ist eine Ausprägung der Multifamilienarbeit im schulischen Kontext. Bei Kindern, welche Schwierigkeiten haben den schulischen Alltag zu bewältigen, wird ihr Familiensystem als unverzichtbare Ressource miteinbezogen. Die Kinder erleben, dass Lehrpersonen und Familien einander achten und vertrauen. In der Multifamiliengruppe erfahren sie die Eltern als interessierte und verlässliche Begleitung. Die Eltern unterstützen ihre Kinder aktiv und werden durch die Gruppe in diesem Prozess bestärkt und angeregt die Verantwortung für ihre Kinder unbedingt zu übernehmen.
Multifamiliengruppen im Regelschulbetrieb treffen sich meist wöchentlich für 2 bis 4 Stunden (innerhalb oder ausserhalb der Schulzeit). Die übrige Zeit besucht das Kind den Unterricht in seiner Stammklasse. Im schulischen Kontext kann eine Unterrichtsteil Bestandteil sein, manchmal finden die Gruppen am späteren Nachmittag, frühen Abend oder am Samstagmorgen statt. Dann liegt der Fokus stark auf Multifamilienübungen.
Familienklassenzimmer können in den entsprechenden Schulen oder an einem zentralen Ort für mehrere Schulen stattfinden. Mit der gemeinsamen Teilnahme von Kindern und Eltern in der MFA soll eine positive Schullaufbahn ermöglicht und der Verbleib in der Regelklasse angestrebt werden.
Multifamiliengruppen in sonderpädagogischen und therapeutischen Einrichtungen
Seit einigen Jahren interessieren sich zunehmend sonderpädagogische und therapeutische Einrichtungen sowie Kinder- und Jugendheime für die Multifamilienarbeit und -therapie.
Neben dem ausserschulischen Lehr- und Ausbildungspersonal gehören dabei Heil- und Sonderpädagog*innen, Psychotherapeut*innen, Logopäd*innen, Ergo- und Psychomotoriktherapeut*innen zum Betreuungsteam. Die Eltern werden unterschiedlich intensiv in die Arbeit einbezogen.
Diese Institutionen sind wegen der kleinen Klassen- und Gruppengrösse prädestiniert für die MFA und MFT sowie für Familienklassenzimmer. Die teilnehmenden Kinder und deren Eltern kennen sich oft schon ein wenig, das Eis ist schnell gebrochen. Die Eltern fühlen sich ernst genommen und miteinbezogen. Sie erfahren, dass sie die Lehrer*innen und Sozialpädagog*innen durch ihre verstärkte Teilnahme am Prozess wirksam bei der Entwicklung ihrer Kinder unterstützen können. Ein Miteinander anstelle des sonst nicht selten stattfindenden Gegeneinanders von Eltern und Schule oder Institution, wird erlebbar.
Im rein ambulanten Setting von Kinderpsychiatrien wurden Multifamiliengruppen mit an Anorexie, Asperger, Psychosen oder Bindungsstörungen leidenden Kindern und Jugendlichen ebenso positiv evaluiert. Dabei ist es allerdings nicht einfach, die Eltern zu gewinnen, insbesondere wenn sie dafür bei der Arbeit fehlen müssen. Die Ängste von Arbeitsplatzverlust oder das Unverständnis bei den Arbeitgebenden sind oft starke Hürden. Dies, obwohl die Eltern für notwendige Therapien bei Kindern arbeitsrechtlich die benötigte Zeit einfordern können.
Kinder aus der Klemme
"Kinder aus der Klemme" ist ein multifamilientherapeutisches Programm für Familien in hochstrittigen Trennungssituationen. Es schafft einen sicheren Raum, in dem beide Elternteile und Kinder ihre Erfahrungen und Gefühle teilen können. Durch die Zusammenarbeit mit anderen Familien, die ähnliche Situationen durchlaufen, können Eltern und Kinder voneinander lernen und Unterstützung finden.
Das Programm kann dazu beitragen, die Kommunikation zu verbessern und Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden. Der Einbezug des familiären Netzwerkes und der Austausch mit anderen Familien in ähnlichen Situationen stärkt das Gefühl der Solidarität und die Motivation zur Veränderung. Die kann zu einer besseren Anpassung an die neuen Familienumstände führen.
Die Kinder werden ermutigt, ihre Gefühle und Sorgen auszudrücken, was den Eltern dabei hilft, die Auswirkungen ihrer Trennung aus der Perspektive ihrer Kinder besser zu verstehen. Dies sensibilisiert die Eltern dafür, ihre Konflikte von ihren Kindern fernzuhalten und ihnen die Sicherheit zu geben, dass beide Elternteile trotz der Trennung für sie da sind.
Kidstime
Kidstime ist ein multifamilientherapeutisches Angebot für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil. In einem geschützten Rahmen können sich Familien in offener Atmosphäre zu den Themen psychischer Erkrankungen austauschen.
Kidstime nutzt die Möglichkeiten der Multifamilientherapie, stärkt die Beziehungen innerhalb der Familien und fördert den Austausch zwischen unterschiedlichen Familien und generationenübergreifend. Die teilnehmenden Eltern und Kinder machen die Erfahrung „in einem Boot zu sitzen“ und finden oftmals Wege aus schambesetzter Isolation.
Kidstime bietet vielfältige kreative Ausdrucksmöglichkeiten, insbesondere im Theater- und Rollenspiel zu selbst entwickelten Themen entlang des roten Fadens der elterlichen psychischen Erkrankung.
Gemeinsames Essen gehört ebenfalls zum Programm – im informellen Austausch untereinander findet sich oft der Zugang zu den bewegendsten Themen „wie nebenbei“.